Einführung: Beistand zur Selbsttötung

Einführung

Seit 2022 ist der assistierte Suizid in Österreich legalisiert. Ein eigenes Medikament kann aus der Apotheke für die Selbsttötung bezogen werden.

Was genau wurde jedoch in Österreich mit 2022 legalisiert – was ist anders?

Jetzt ist legal:

der Beistand in Vorbereitung zur Selbsttötung, also das „Assistieren“ beim Suizid
in Kombination mit einem speziellen Sterbemedikament
für gewisse schwer(st) kranke Menschen.

Das Parlament folgte einer Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes von 2020[1], und das Gesetz trat zwei Jahre später in Kraft.

Damit wurde top-down eine neue Kultur geschaffen.

Ob diese bereits bottom-up vorhanden war oder gewesen wäre, lässt sich nicht eindeutig beantworten, weil tatsächlich nur eine einzige Umfrage dazu in Österreich zu existieren scheint.[2]

Die Neuerung noch einmal in einem einzigen Satz: Ein todkranker oder ein dauerhaft schwerkranker Mensch kann sich jetzt mit der Hilfe einer zweiten Person mit einem Sterbemedikament legal und geplant suizidieren.

Dahinter stehen jedoch die allergrößten menschlichen Fragen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Und so leitet sich hier die Frage ab: darf ich selber über meinen Tod entscheiden?

Weiters fragen sich der Staat und somit die Gesellschaft: sind die Autonomie und die Selbst-Bestimmtheit des Menschen höherwertig als der gesellschaftliche Druck auf die Alten + Kranken + Nutzlosen? Denn diese beiden sind jeweils das Hauptargument für oder gegen den assistierten Suizid: die Bestimmung über sich selbst versus dem gesellschaftlichen Druck.

[1]  Verfassungsgerichtshof, G 139/2019-71, 11. Dezember 2020

[2] https://www.oeghl.at/news/umfrage-80-in-oesterreich-fuer-sterbehilfe

Moral und Recht

Unsere Moral, das sind unsere Vorstellungen von gut und böse, von gut und schlecht. Die Lehre von der Moral ist die Ethik.

Unsere Moral, also unsere Kultur des Lebens, Denkweise und Ansichten darüber, stellt die Autonomie seit einigen Jahrzehnten stark in den Vordergrund. Die einzelne Person soll über sich entscheiden. Auch innerhalb der Familie trifft der einzelne Mensch die Entscheidung über sich, so sieht die österreichische Gesellschaft mehrheitlich die Selbstbestimmung.

Die Ethik befindet sich jedoch in einem rechtlichen Korsett. Wir gestalten wohl indirekt unser Recht durch unsere Kultur, indem wir die Volksvertreter gewählt haben. Gleichzeitig gestalten jedoch unsere Institutionen durch die Rechtsprechung top-down auch unsere Kultur.

So geschah es mit dem Erkenntnis des VfGH – er gestaltete top-down die Kultur unserer Gesellschaft und ein Stück weit unsere Denkweise, nämlich durch die Schaffung des assistierten Suizides.

Formen der Sterbehilfe
Passive Sterbehilfe:

eine Therapie, z.B. eine künstliche Beatmung, wird nicht mehr durchgeführt, weswegen der Mensch verstirbt. Dies war immer schon möglich und notwendig und ist ein geradezu natürlicher Vorgang, wenn die Beatmung nicht mehr weiterhelfen kann.

Indirekte Sterbehilfe:

Ein starkes Schmerzmittel wird im unmittelbaren Sterbestadium zum Zweck der Linderung von Schmerz und Atemnot gegeben. Das Sterbestadium ist unterschiedlich lang. Manchmal ist es sehr kurz. Im Extremfall kann es auch länger als einen Tag sein. Schmerz und Atemnot sind mögliche Begleiterscheinungen beim Sterben. Das Opiat, welches als starkes Schmerzmittel gegeben werden kann, kann zu einer Verkürzung des Lebens führen, führen und wird in Kauf genommen, wenn dadurch der Komfort des Menschen erhöht wird. Diese Verkürzung ist üblicherweise höchstens im Bereich von Stunden angesiedelt.

Beihilfe zum Suizid:

Das ist der assistierte Suizid, welcher seit 2022 erlaubt ist, und um den es in der ganzen Diskussion geht. Der Mensch, der sein Leben beenden möchte, muss das Glas Wasser, in welchem das Sterbepräparat aufgelöst ist, selbst trinken. Das ist noch selbsterklärend.

Es gibt jedoch für Menschen, die nicht mehr schlucken können, die Möglichkeit, eine Infusion mit dem Sterbepräparat zu erhalten. Diese Infusion wird von einer medizinischen Person hergerichtet. Zum Schluss muss jedoch der Mensch, der sterben möchte, die Klemme am Infusionsschlauch unbedingt selbst öffnen, damit die Tatherrschaft bei der sterbewilligen Person bleibt.

Aktive Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen:

Wenn jemand anderer die beschriebene orangefarbene Klemme am Infusionsschlauch öffnen würde, so wäre dies eine aktive Sterbehilfe im Sinne einer Tötung auf Verlangen. Diese ist in Österreich verboten.

Dies ist ein Dilemma, dem auch der Gesetzgeber bis jetzt fast nicht entkommen konnte., denn es gibt Menschen, welche diese Klemme nicht mehr öffnen können. Es könnte sein, dass beide Hände amputiert sind. Es könnte sein, dass die Menschen keine Kraft zum Öffnen der Klemme haben, wie dies bei der ALS, einer Erkrankung mit fortschreitender Muskelschwäche, der Fall sein kann. Diese Menschen haben das unter anderem das Problem des besten Zeitpunktes.

Macht über sich selbst behalten

Sollte man die Sterbeverfügung bezogen haben, hat man in Österreich keinen Druck, sich einen Sterbetermin überlegen oder gar vereinbaren zu müssen. Grund ist, dass das Sterbepräparat von der Apotheke bezogen werden kann und dann in persönlichem Besitz ist. Somit muss man sich nicht, wie bei Sterbehilfevereinen im Ausland, auf einen bestimmten, ausgemachten und bezahlten Tag einstellen. Man hat die Macht über sich selbst bis zum Schluss. Man kann täglich so gleichsam das Sterbepräparat betrachten und den Freitod nicht begehen. Täglich kann die Entscheidung getroffen werden, im Leben zu bleiben. Nur ein einziges Mal kann man eine andere Entscheidung umsetzen.

Der Gesetzgeber hat aus diesem Grund von Vereinen abgesehen. Die/der Sterbewillige behält so die Macht über sich selbst.

Empirisch, also aus der gesammelten Erfahrung, wird klar, dass die Macht über sich selbst sogar tröstlich sein kann. Nach einer Untersuchung aus 2019, starben 24 % der eigentlich Sterbewilligen im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon von 1998 bis 2017 eines natürlichen Todes.[1] Dies könnte darauf hinweisen, dass der schiere Besitz des Sterbepräparates vielen Menschen genügt und ihnen die Sicherheit gewährleistet, ihre eigene Herrin/ihr eigener Herr zu bleiben.

Es gibt aber für Menschen, die nicht mehr trinken können oder ihre Hände nicht mehr bewegen können, das Problem, dass sie den assistierten Suizid nicht mehr durchführen können. Diese Menschen haben möglicherweise das Problem des besten Zeitpunktes.

[1] JAMA Network Open 2019; doi: 10.1001/jamanetworkopen.2019.8648

Der beste Zeitpunkt und die Tatherrschaft

Wie bereits ausgeführt, kann man das Sterbepräparat bei sich zu Hause liegen haben, im übertragenen Sinn am Küchentisch oder am Nachtkästchen, und es betrachten. Der Mensch kann nun den Sterbezeitpunkt selbst wählen. Es gibt keinen Termin, der von außen festgesetzt wurde. Der Mensch bleibt für sich selbst verantwortlich.

Sterbewillige, die nicht mehr gut schlucken können oder eine abnehmende Kraft haben, die Klemme am Infusionsschlauch zu betätigen, sollten über den besten Zeitpunkt nachdenken. Das Präparat einzunehmen, erfordert nicht nur den Willen dazu, sondern das Schlucken oder die Funktion der Hand müssen zu einem gewissen Grad erhalten sein.

Wenn das Sterbepräparat über die Vene verabreicht werden soll, dann wird man mit eine medizinische Person kontaktieren, die das intravenöse Sterbepräparat für den/die Sterbewillige herrichtet. Ein Termin wird vereinbart; das ist grundsätzlich nichts Schlechtes.

Nun kann es im Extremfall sein, dass die Infusion vom Sterbewilligen nicht mehr geöffnet werden kann. Hier war die Tötung auf Verlangen, also das Öffnen der Klemme am Infusionsschlauch durch einen Anderen, das scheinbare Mittel. Dieses ist wie auch immer, zu Recht, in Österreich verboten.

In Wien wurde Anfang 2024 ein Apparat entwickelt, der rein mit Augenbewegung gesteuert werden kann. Der Apparat enthält einen Schnappmechanismus, der die Infusion öffnet. Damit ist einerseits gesichert, dass die Macht über sich selbst, mithin die Tatherrschaft, bis zum Schluss erhalten bleibt. Zum zweiten wird der Druck, den besten Zeitpunkt nicht zu verpassen, von den Sterbewilligen genommen.

Philosophie
Alle negativen Entitäten
Zu Rainer Thell
Leitender Oberarzt an der Notfallabteilung Klinik Donaustadt (vormals Donauspital)
Palliativdiplom
Medizinethiker
Akademischer Philosophischer Praktiker (Universität Wien, Univ.-Prof. Konrad Paul Liessmann)
Chefarzt der Johanniter-Unfall-Hilfe in Wien und Niederösterreich
Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, EDIC
Arzt für Allgemeinmedizin, Notarzt
2019 – 2022 Leiter der Ethikkommission am Evangelischen Spital Wien
Vizepräsident der österreichischen Gesellschaft für Notfallmedizin
Mitglied der ARGE Ethik der öst. Ges. für Anästhesie und Intensivmedizin